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Graffiti und der Begriff parasitärer Kulturproduktion

 

Die große Hip Hop-Erzählung handelt von drei Säulen, von denen die Kultur getragen wurde: Rap, Breakdance und Graffiti. Alles andere sei überflüssig oder "sell-out" - eines alleine nichts wehrt. Während des großen, des weltweiten, kommerziellen Fischzugs den "Hip Hop Amerika" (Nelson George) in den 90ern hinlegte, wurde Hip Hop fast gänzlich synonym mit Rap, ergänzt nur noch durch Hip Hop-Couture und eine allgemeine Performance, zusammengesetzt aus Slang, Machismo und stilvollem Zynismus.

Die Breaker und Graffitikünstler - die Writer - haben sich dagegen weniger gut vermarktet, und dafür gibt es plausible Gründe: Graffiti und Breakdance fanden ursprünglich an der Grenze zur Illegalität statt, sind körperlich anspruchsvoll, bis gefährlich und sind schwer zur Ware zu formen. Während sich Popmusik hervorragend auf Materialien pressen läßt, die sich dann reproduzieren und verkaufen lassen, ist Breakdance als Livekunst Tanz zu wenig warenförmig und als Gesellschaftstanz zu waghalsig. Graffiti schließlich ist wohl die sperrigste und widerständigste der drei Kunstformen, und auch bei ihr liegt der Schlüssel in der Medialität, in dem Wie und dem Wo des künstlerischen Akts und Artefakts.

Graffiti - in dem Sinne, wie wir den Begriff für ein Produkt der Hip Hop-Kultur benutzen - entstand in und auf den Nahverkehrszügen New Yorks. Da es von Anfang an bei Graffiti um Verbreitung, also um räumliche Ausdehnung und Präsenz ging, waren die Züge der notwendige Hintergrund, das Material, auf dem die ersten fiktiven und verschlüsselten Namenszüge, die Tags, geschrieben wurden. Die Metropolitan Transportation Authority übernimmt die Rolle der Gutenbergschen Druckpresse - sie verbreitete die künstlerisch geschaffene Identität überall in der Stadt, also eigentlich überall im Universum der frühen Hip Hop-Szene.

Aber der Vergleich zum Buchdruck erfasst das Phänomen Graffiti nur teilweise. Für das reine Taging trifft der Vergleich zu, zumal es bei beiden - Buchdruck und Taging - von Anfang an um Macht und die Festigung und Verbreitung des Einflußbereiches dieser Macht ging. Mit dem Buchdruck kam das Gesetz der Kirche zu den Massen Europas, zuerst nur zu den wenigen belesenen und später, als die bürgerliche Gesellschaft zur Durchsetzung ihrer neuen Ordnung das Lesen zur Bürgerpflicht machte, zu allen. Mit den Tags in und an den Wagen der MTA kam der eigene Name (oder der Name der Gang) zu allen, die lesen konnten. Die eigene Macht und Potenz wurden durch die visuelle Ubiquität manifestiert. Und wer die Zeichen nicht deuten konnte, der zählte auch nicht, denn er gehörte nicht zur Szene. Graffiti hat diesen Aspekt des symbolischen Verteilungskampfes nie ganz verloren. Und auch die Bedeutung des Schriftlichen, der spezifischen Literarizität der Szene lebt in der Selbstbezeichnung der Künstler als Writer weiter.

Als sich Graffiti dann aber ästhetisch emanzipiert hatte und neben den symbolischen Verteilungskampf der Kampf um Form und Stil, also die ästhetische Arbeit am Medium selbst getreten war, konnte sich etwas völlig neues entwickeln. Graffiti wurde beinahe zeitgleich mit dem Happening und der Videokunst zu einer dritten performativen Malerei. Natürlich wurden die Writer dabei auch von den Downtown-Galeristen entdeckt, so daß Basquiat und später Futura 2000 Leinwände für Künstlerlofts in Manhattan besprühen durften. Aber genau hier und in dem Moment, als mit Graffiti Geld verdient wurde, verlor es seine mediale Besonderheit und degenerierte zur Ghettofolklore. Denn:

1. Graffiti ist nicht permanent sondern transitorisch. Manche Werke mögen ein paar Jahre oder sogar länger überdauern, aber das ist nicht die Regel. Es gibt einfach nicht genug freistehende Wände und erst recht nicht genug Züge in einer Stadt, um Permanenz zur Regel werden zu lassen. Das bedeutet, dass wer ein Graffitiwerk sehen will, zu einem bestimmten Zeitpunkt danach suchen muss, bevor das Werk übermalt, oder mit Chemikalien vernichtet wird.
2. Graffiti ist immer fest an bestimmte Orte gebunden. Graffitiwerke benötigen einen Untergrund, der wiederum immer an einen Ort gebunden ist. Die Werke auf der New Yorker U-Bahn verlassen die Stadt ebenso wenig, wie die besprühten Häuserwände.
3. Graffiti findet immer im öffentlichen Raum statt. Da Graffiti an großflächige Untergründe gebunden ist, ist sie als private Kunst schlicht unpraktikabel. Außerdem besteht ein wesentlicher Aspekt von Graffiti darin, Sichtbarkeit zu erzielen und je mehr Menschen Zugang zu dem Werk haben, desto höher seine Sichtbarkeit. Deswegen sind besonders gut sichtbare Plätze zum Beispiel an Hochhauswänden oder an Industriekaminen am Stadteingang besonders beliebt, selbst wenn die Arbeitsbedingungen dort miserabel sind.
4. Graffiti ist parasitär. Graffiti ist was ihr Material betrifft nicht autark, sondern benutzt Kulturprodukte um deren Oberflächen durch den künstlerischen Eingriff zu manipulieren. Deswegen sind Graffitiwerke auch vor dem Hintergrund des jeweiligen Ortes ihrer Ausführung zu betrachten: Graffiti auf Zügen gehorcht formal anderen Gesetzen, als Graffiti an Hauswänden. Die Werke beziehen sich häufig auch inhaltlich auf ihren Ort, kommentieren dessen soziokulturelle Bedeutung oder schlicht die Arbeitsbedingungen vor Ort.
5. Graffiti ist performativ, weil der Akt des Sprühens nicht lediglich Mittel zum Zweck, sondern bereits Teil des Kunstwerks ist. Die Bedingungen der Produktion gehen also in das Artefakt ein und prägen seine Aussage. Da Graffiti in der Illegalität stattfindet, der künstlerische Akt selbst eine Gesetzwidrigkeit darstellt, riskieren Writer nicht nur die strafrechtliche Verfolgung, sondern gehen auch physische Risiken ein. Sie arbeiten nachts, im Dunklen und zwischen Schienen, in Eisenbahntunneln oder auf meterhohen Baugerüsten. All dies macht Graffiti zur idealen Projektionsfläche für jegliche Form von Outlaw-Romantik, zu einer Dissensbewegung par excellence. Worauf es aber hierbei ankommt, ist, dass das Werk immer die Spuren seiner Produktion trägt, da der Ort und die durch diesen geschaffenen Arbeitsbedingungen vom Werk untrennbar sind. Der Eindruck kann täuschen und nicht jeder Ort erzählt die ganze Geschichte, aber in jedem Fall drängt sich die Produktion der Rezeption in ihrer Materialität unvermeidlich auf.

Wenn Graffiti transitorisch, lokal, öffentlich, parasitär und performativ ist, ist sie dann überhaupt eine bildende Kunstform? Oder ist sie eine darstellende Kunst? Ihr Zeichensystem scheint jedenfalls das der bildenden Kunst zu sein. Aber Graffiti konstruiert nie einen nach außen geschlossenen Kunstraum, wie Malerei das tut. Graffiti bezieht sich immer auf den Raum um sich, da es ihn benutzt und in das Kunstwerk einbaut. Letztlich ist die Entscheidung darüber, ob sie eine bildende oder genauer eine skulpturale Kunst ist oder aber eine darstellende Kunst bzw. eine Performance, eine Frage der Gewichtung der verschiedenen Zeichen und Zeichensysteme untereinander.

Ein Aspekt ihrer Medialität hebt Graffiti aber vor allen anderen heraus und macht sie interessant für eine materialistische Kunstkritik: Das Parasitäre. Was bedeutet es, wenn eine Kunst parasitär ist? Wie verhält sich ein parasitäres Zeichensystem gegenüber dem Zeichensystem, daß seinen Wirt darstellt? Parasiten brauchen einen Untergrund (Ektoparasiten) oder ein Umfeld (Endoparasiten), dem sie einen lebenswichtigen Stoff entnehmen. Übertragen auf die Kunst muß dieser Wirt ein einigermaßen komplexes kulturelles System darstellen oder Teil eines solchen sein. Graffiti ist parasitär, weil es die Nahverkehrszüge entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung - etwa Menschen transportieren oder für Kleidungsmarken werben - für ihre eigenen Zwecke nutzt. Der lebenswichtige Stoff ist dabei eine sich bewegende bis zu zwanzig Meter lange Leinwand, die überall in der Stadt zu sehen ist.

Parasitär bedeutet nicht, dass eine Kunst oder ein Werk, eine andere Kunstform nachahmt oder ihr einzelne Zeichenkomplexe klaut. Auch ist genau genommen jedes kulturelle Subsystem endoparasitär, da es nicht ohne sein kulturelles und gesellschaftliches Umfeld existieren kann. Graffiti zeichnet sich als kulturelles System dadurch aus, dass es gar nicht erst versucht Autarkie zu behaupten, sondern aufgrund seiner medialen Disposition den Umstand der Interdependenz selbst zur Aussage erhebt und seinen eigenen Zeichenfundus in einem dialektischen Verhältnis zum Zeichenfundus eines anderen, konkreten kulturellen Systems entwickelt. Aus der Betonung der Interdependenz und zwar aus einer Betonung, die nicht von Mangel oder Abhängigkeit erzählt, sondern von kreativer Freiheit, erwächst der dialektische und politische Gehalt der kulturellen Praxis. Denn Graffiti steht immer in einem dialektischen Verhältnis zur Urbanität, zur arbeitenden Bevölkerung, die sich in die Nahverkehrszüge drängt, und zum öffentlichem Raum, der in einem ständigen Kampf zwischen privaten und öffentlichem Interesse erobert und verteidigt werden muss.

Graffiti zerstört daher nicht etwa den öffentlichen Raum. Anders als die Werbung ist sie kein fakultativer Parasit. Fakultative Parasiten saugen ihren Wirt aus, lassen ihn dann leblos zurück und ziehen weiter. Plakatwerbung etwa verhält sich parasitär zum öffentlichen Raum und öffentlichen Einrichtungen, zielt aber auf dessen schrittweise Zerstörung durch Annexion und Privatisierung. Erreicht die Privatisierung ein gewisses Maß, stirbt der öffentliche Raum ab und wird für die Werbeindustrie uninteressant. Graffiti aber schließt Privatbesitz von vorneherein aus. Es geht nicht um die Eroberung von Raum zur privaten Nutzung, es geht um die Nutzung von Raum als öffentlichen Raum. Deswegen muss Graffiti notwendigerweise transitorisch, also flüchtig bleiben.

Diese Bedeutung des urbanen Raums, des politischsten aller Räume, ist bezeichnend für Hip Hop. Lokalität spielt sowohl im Rap wie in Graffiti eine zentrale Rolle. Und das ist bemerkenswert. Denn die sozio-kulturellen Ursprünge der Kultur liegen in einem der menschenfeindlichsten und disfunktionalsten urbanen Räume, die die Neuzeit produziert hat: den Ghettos ethnischer Minderheiten, schwarz und latino. Die widerständige Kultur nimmt sich ihres unmittelbaren, materiellen und sozialen Umfelds an. Raum wird gleichzeitig zur Metapher und zum Projekt der kulturellen Produktion: zur Metapher für Unterdrückung und gesellschaftlichen Zerfall sowie für Emanzipation und Autonomie; zum Projekt der Reokkupation und Regeneration öffentlichen Raums durch eine alternative urbane, und in ihren besten Momenten parasitäre Kulturproduktion.

J.P. Possmann, April 2003

 

 

 

 

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