Programm
Texte
Forum
Produktionen
Kontakt


Beitrag für "echtzeit", Magazin für Gestaltung
der Fachhochschule Potsdam

 

Rehe im Scheinwerferlicht

Über die Dramaturgie des Fehlers und das System des Scheiterns

 

Warum bleibt sie bloß da? Warum merkt sie es denn nicht? Alle Handtücher hängen in Reih' und Glied. Die Dosen im Küchenschrank sind ordentlich aufgestapelt. Wir wissen es, sie weiß es, die ganze Welt weiß es inzwischen - er ist wieder da, er ist im Haus. Und Julia Roberts macht einen Schrank nach dem anderen auf, geht von einem Zimmer zum nächsten. Die Frau wird doch wohl wissen, ob sie ihre Suppendosen vorher penibel geordnet aufgestellt hat oder nicht. In ihrer eigenen Wohnung! Julia Roberts macht einen Fehler.

Und da der Film eine miese Dramaturgie hat, macht sie nicht bloß einen Fehler, sondern sie macht mehrere und zwar Fehler, die kein normaler Mensch machen würde. Sie steht wie das Reh im Scheinwerferkegel des heranrasenden Autos auf der Stelle und starrt mit ängstlich aufgerissenen Rehaugen der Katastrophe ins Gesicht. Jede andere Frau würde jetzt wegrennen, die Tür aufreißen und zu dem Freund nebenan flüchten, der immerhin nicht ganz so psychopathisch ist wie ihr zurückgekehrter Ehemann. Aber da sie es nicht tut, gibt es keinen Szenenwechsel und kein erneutes Hinauszögern des Showdowns, sondern der Showdown folgt unmittelbar und direkt hier in ihrem Haus.

Das macht dramaturgisch wiederum durchaus Sinn, denn nur so kann die volle Symbolkraft der eigenen vier Wände ausgespielt werden. Das Heim verwandelt sich vom Rückzugsgebiet für die eigene Intimität und Integrität zur Kampfarena eines Terrorismus geschlechtlicher Konventionen. Und deswegen muß der Schweinehund auch in ihrem Haus auf dem Teppich liegen und verbluten. Der Film ist also weder viel schlechter noch konsequenter als andere Hollywood-Filme. Er verwendet lediglich eine für die Genres Horror, Action und Psychothriller konstituierende und essentielle Dramaturgie: die Dramaturgie des Fehlers.

Diese Dramaturgie des Fehlers scheint ja durchaus subtiler zu werden. Filme, in denen die Fehler so plump sind, dass sie die Intelligenz der Figur und damit auch unsere Intelligenz beleidigen, scheinen zum Glück seltener zu werden. Das Kino ist schließlich eine noch junge Kunst. Die massive Präsenz des Filmischen täuscht leicht darüber hinweg, dass der Film gerade mal etwas mehr als hundert Jahre alt ist und als Kunstform nicht mal das. Wir sollten also erwarten dürfen, dass sich die Dramaturgie weiterentwickelt. Dass sie subtiler wird, heißt aber nicht, dass der menschliche Fehler aus ihr verschwände. Er ist viel zu wichtig und zwar nicht nur in bezug auf das Filmische als ein allgemein verständlicher Code, sondern auch in Bezug auf unsere Gesellschaft und darauf, wie Film die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen er entsteht, widerspiegelt.

Was bedeutet es also, wenn Filmfiguren, Helden wie Bösewichte, immer wieder die falschen Entscheidungen treffen, wenn sie sich geradezu vorsätzlich irren? Und was bedeutet es, wenn wir, die Zuschauer, ihnen dabei voraus sind? Und warum können wir das genießen?

Die letzte Frage ist schnell beantwortet: wir genießen das Gefühl unserer eigenen Überlegenheit, wenn wir den anderen irren sehen. Es ist das Kunsterlebnis schlechthin: Wir sehen der Gefahr und dem Leid anderer ins Auge und sitzen sicher auf unseren Plätzen, wir sind ergriffen und gleichzeitig unantastbar. Wir identifizieren uns mit der Figur, erfahren aber in der Kritik ihrer Fehler die wohltuende eigene Distanz.

So viel läßt sich über die antike Tragödie genauso wie über Hollywood sagen. Der wesentliche Unterschied liegt wieder im Fehler: die Tragödie ist tragisch, weil das Unheil und Leiden in ihr unvermeidbar sind. Es geht also eigentlich nicht um Fehler, sondern um tragische Umstände. Die Dramaturgie vieler Filme benutzt dagegen den Fehler, um eine letztlich beliebige Handlung (in beliebigen Umständen) anzutreiben und zu legitimieren. Das bedeutet nicht, dass der Fehler nur ein Mittel zum Zweck und letztlich ohne Aussage wäre. Im Gegenteil: Die Aussage dieser Filme liegt nicht in der Handlung, sondern in den Fehlern, die sie antreiben. Der Fehler ist das alles erhaltende gesellschaftliche Prinzip. In einer Gesellschaft, die auf der Überlegenheit einzelner beruht, da sie nicht gewillt ist, alle zu tragen, ist der Fehler des Einen die Garantie für das Überleben aller Anderen. Wir brauchen die Dummen, die Idioten, die Risikofreudigen, die Unbeherrschten, die Süchtigen, die Maßlosen. Wir brauchen sie, weil eine Gesellschaft der Geschickten und Vernünftigen am Wettbewerb zugrunde gehen müßte. Damit sie das nicht tut, bevölkern diese Fehlertypen unsere Kultur. Wir erkennen sie als unsere eigentlichen Retter, als Märtyrer des Systems.

Und genau diese Erkenntnis spiegelt sich in ihren weit aufgerissenen Rehaugen. Sie sind die Rehe im Lichtkegel der Autoscheinwerfer und sie wissen, dass sie nicht fliehen dürfen, nicht fliehen können, wenn diese Geschichte, die die Geschichte unseres täglichen Überlebens ist, weitergehen soll. Sie wissen, dass sie mit ihrem Fehler den Glauben in unser aller Sicherheit wiederherstellen. Und wir genießen den Fehler als ein Zeichen dafür, dass alles stimmt auf dieser Welt. Dass jeder frei entscheiden kann, dass manche nun mal Fehler machen und dass sich ja gerade darin ihre Freiheit ausdrückt. Und dass andere eben klüger sind. Die anderen sind wir. Diesmal. Aber was passiert bei der nächsten Entscheidung, hier draußen im wirklichen Leben? Holt die Dramaturgie des Fehlers das nächste Mal uns ein? Sind wir clever genug? Hängt es wirklich von unserer Cleverness ab, oder erwischt es auch die Cleversten unter uns irgendwann? Wie in einem schlechten Film.

Je offensichtlicher die Filmhandlungen sich des Fehlers bedienen, desto direkter blickt uns die Gegenwart im Kino an. Deswegen sind die Filme, in denen die Fehler klar und die Strafen hart sind, die ehrlicheren Erzählungen. Sie entsprechen einer Erfahrung, die den Fehler tagtäglich am Werk sieht und sich der Klippe zwischen richtig und falsch ständig bewußt ist. Diese Filme sind also viel näher an der Realität der meisten Menschen dran, als wir wahrhaben wollen, wenn wir sie wegen allzu platter Fehlerdramaturgien als "unrealistisch" kritisieren. Nicht die Dummheit des Einzelnen steht hier zur Diskussion, sondern die Brutalität der Umstände. Wenn der Fehler zum bestimmenden Prinzip der Realität wird, was ist dann an einer offensichtlichen Dramaturgie des Fehlers unrealistisch?

Diesem Realismus des Fehlers können wir nur begegnen, indem wir bewußt unrealistisch sind. Wenn wir die Fiktion der Herrschaft des Fehlers entreißen und stattdessen die Utopie einer alternativen Dramaturgie, einer Dramaturgie des Lebens etwa, entwerfen, dann können wir die Gründe für die Herrschaft des Fehlers aufdecken. Dann wären wir, wie Alexander Kluge schreibt, "unrealistisch um realistisch zu sein". Denn die Gründe liegen nirgendwo anders als in unserer gesellschaftlichen Realität, die den Fehler und somit das Scheitern zum System erhoben hat.

J.P. Possmann, Mai 2003

 

 

 

Home