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Texte zum Raum:

 

Spielort

 

Was erwarte ich als Zuschauer, wenn ich ins Theater gehe?

Rein subjektiv gesprochen, erwarte ich eine Spielsituation, die mir spielerisch in Raum und Zeit meine Situation vergegenwärtigt und/oder meine Gewohnheiten und eingeübten Sichtweisen in Frage stellt, sie für einen kurzen Moment zur Disposition stellt.

Diese Erwartung ist nicht selten. Jedoch findet sie kaum Entsprechung, zumindest im landläufigen Theaterbetrieb, von Ausnahmen abgesehen, die hier wie sonst nur die Regel ins Gedächtnis rufen, nämlich die, dass die Erwartungen enttäuscht, die Hoffnungen nicht eingelöst werden, von Abend zu Abend, von Theaterbesuch zu Theaterbesuch.

Und dennoch lässt sich jedes Mal aufs neue die Lust am Theater, am bühnenreifen Spektakel neu beleben, denn in ihr weckt sich eine Sehnsucht stets von Neuem selbstständig zum Leben: die Sehnsucht nach Experiment, nach einem Versuch, im Hier und Jetzt, das heißt in diesem und keinem anderen Raum, in dieser und keiner anderen Zeit, mit diesen und keinen anderen Menschen zusammen etwas zu bewerkstelligen, etwas zu erleben.

Es ist dies das Besondere des Theaters: Es lebt nur in einem kurzen Augenblick und realisiert sich, wie schon oft gesagt und gepriesen, in jedem weiteren neu.

Warum, wenn dies die Grundbedingung des Theaters ist, schlagen so viele Versuche fehl, entgeht so vielen Produktionen der Griff, Zuschauern wie Performern eine Art Experimentieranleitung an die Hand zu geben, die das Dargestellte belebt, es greifbar, verstehbar, erlebbar macht, mithin einen Darstellungsprozess in einen Handlungsprozess verwandelt?

Ob es Unachtsamkeit ist oder Fetisch, ein schlechtes Gewissen dem Kino gegenüber oder Resultat gängiger gesellschaftlicher Prozesse, mag dahingestellt sein. Wesentlich ist meines Erachtens ein Missverständnis den materiellen Grundbedingung des Theaters gegenüber: nämlich dem Raum.

Klassisch unterscheidet sich das Theater vom Kino nicht so sehr durch seine Einmaligkeit im Hier und Jetzt, die singuläre Theaterabendprofanie, sondern durch die darstellende, in den Hintergrund treibende Dreidimensionalität: Theater hat Raum, ist Raum, hat Wirklichkeit. Die Zeit, die Einmaligkeit, ist abhängig vom Rezeptionsverständnis: Auch ein Kinofilm ist bei jedem erneuten Rezeptionsakt in einer verschiedengefärbten Gemütsstimmung ein einmaliger, nicht zu wiederholender Akt. Wer kennt nicht das Gefühl, einen Film nicht wieder sehen zu wollen, weil die Gefahr besteht, diesen Film, der in der damalige Situation so sehr gepasst, der Stimmungslage nachgerade entsprochen hat, durch eine falsch hergestellte erneute Rezeption in Frage zu stellen und damit das Kino-Film-Erlebnis im nachhinein zu entwerten. Theater mag einmalig im Hier und Jetzt stattfinden, dem Rezipienten ist diese Einmaligkeit aber in actu dieselbe, solange er nicht ein und dasselbe Theaterstück wieder und wieder sieht, Vergleiche anstellt, um so in die zeitliche Tiefe des Theaterstücks einzutauchen. Die zeitliche Tiefe, die Einmaligkeit des Hier und Jetzt, auf die in der Frage nach dem Unterschied zwischen Kino und Theater verwiesen wird, ist nur erlebbar, wenn eine Reihung der Rezeption stattfindet. Nur in der Wiederholung ist dem besonderen Erlebnischarakter nachzuspüren - aber wer geht schon mehrmals in dasselbe Theaterprojekt, wer außer Theaterproduzenten? Und wann, das ist hier die Frage, fühlt man sich überhaupt dazu motiviert, mehrmals in ein Theaterprojekt zu gehen, um dessen zeitliche Tiefe auszuloten, die zwar besteht, aber solange unsichtbar bleibt, wie ich mich nicht ein zweites, vielleicht sogar ein drittes Mal mit diesem Bühnenprojekt auseinandersetze?

Es wird deutlich, dass die zeitliche Einmaligkeit nicht nur nicht charakteristisch ist, sondern sogar schwerlich als Ausgangspunkt für eine besondere Rezipientenhaltung dienen kann. Nicht die zeitliche Einmaligkeit ist das spezifisch Eigene des Theaters - die räumliche ist es, in der sich Zeit und Handlung manifestiert und die das eigentliche Sensorium des Theaters ist, das, worin es dem Theater keiner nachmachen kann, selbst die Illusionsmaschinerie des Kinos nicht, nicht Wagners verdunkelter Bühnenraum, weder Musik, noch Zeichnung, noch Literatur.

Alle Medien haben ihren Raum im Rezeptionsakt, wo er unsichtbar bleibt, im träumenden Musikhören, im gefesselten Starren auf die Kinoleinwand, im schwelgerischen Lesen, im staunenden Betrachten von Gemälden. Hier ist der Raum im Rezipienten, dort breitet er sich aus, gibt dem Werk Realität, aber bleibt unsichtbar, nicht greifbar. Das Theater hingegen hat die materiale Gelegenheit, just dies zu thematisieren: die räumliche Tiefe, die auf seine zeitliche verweist, aber von dieser nicht abhängig ist, denn das Theater existiert nur als Ort, nicht als Konstrukt, nur als Raum, nicht als Idee, deshalb gab es viele Theaterproduzenten, die sich auch mit dem Bau von Theaterhäusern beschäftigt, gerade in dieser Tätigkeit große Erfüllung gefunden haben. Theaterumbrüche, große Würfe, bahnbrechende Ideen verknüpfen sich mit Orten, mit Theaterhäusern, mit Theatermachern, die Spielorte gründeten, also Bereiche, Räume schafften, herstellten, sich eroberten, in denen sie tun und lassen konnten, was sie wollten.

Das ist das Sensationelle am Theater, das ist es auch, was einen immer wieder ins Theater treibt, die Möglichkeit Räume zu nutzen, Räume zu verändern, sich in Räumen kreativ zu bewegen, also das zu tun, was einem infrastrukturell, sozioökonomisch ansonsten nicht erlaubt ist. Kritisiert die Zeichnung das im Bewusstsein festgebrannte Bild, der literarische Text die festgezurrten Bedeutungsgebungen, die Musik die eingezäunten Emotionswälle, Tanz die eingefahrenen Bewegungsabläufe usw. usf., so kritisiert das Theater nicht Gesellschaft im Allgemeinen und Leben im Besonderen, sondern einzig und allein, seitdem die materielle Arbeitsteilung sich auch in den Kunstprozessen niedergeschlagen hat, den Raum - hier greift Theater ein und erneuert den Zugang zur Raumgestaltung, spiegelt eine gesellschaftliche Praxis vor, in der nicht nur das in einem Raum Gegebene, sondern auch der Raum selbst verändert werden kann. Das ist das Sensationelle am Theater und auch das, was motiviert, stets aufs neue ins Theater zu gehen.

Und doch: Raum bleibt Anathema im theatralen Betrieb. Performer laufen zwischen drei Wänden umher, verschieben diese oder jene Requisite, positionieren sich zueinander, zum Publikum, zum Licht, aber nicht zum Raum - nicht selten stehen sie verloren da, Gespräche, Unterhaltungen, Tanzeinlagen können nicht darüber hinweg täuschen: weder den Rollen, noch den darstellenden Performern, noch dem Publikum gehört der Raum, in dem sich abspielt, was sich abspielt und was dadurch fremd und unzugänglich bleibt, fast kryptisch, im besten Sinne unterhaltsam, erlebnisreich, gespickt mit überraschenden, aus dem Handlungszusammenhang herausragenden Einzelmomenten, Abbildungen einer Tiefenwirkung, die das Stück nicht haben kann, weil ihm nicht nur die zeitliche, sondern auch räumliche Tiefe mangelt.

Wie wäre sie herzustellen, die räumliche Tiefe?
Situation ("The show must go on II" von Jerome Bel):
Ein Performer tritt von der Bühne ab. Die Bühne ist leer. Kaum Requisiten. Er kommt wieder, mit einer Fernbedienung in der Hand, stellt sich an eine der vorderen Ecken, seitlich zum Publikum und fährt mit Hilfe der Fernbedienung einen mächtigen Greifarm aus, gleich einem Kran, eine fahrbare Beleuchtungshalterung. Die Szene dauert etliche Sekunden. Langsam, knarrend, brummend schiebt sich der maschinelle Arm in den Bühnenraum. Der Performer schaut zufrieden der sich bewegenden Maschine zu. Die Spannung steigt, was es mit dem Arm wohl auf sich hat, der so lange ausgefahren wird. Der Raum ist erfüllt mit Brummen und Summen. Nachdem der Arm ganz ausgefahren ist, wird er wieder eingefahren, wieder etliche Sekunden, minutenlang. Daraufhin verschwindet der Performer wieder und setzt seine Performance fort.

Was für eine Wirkung hat diese Zwischensequenz?
Sie öffnet den Raum, zeigt ihn als Produktionsstätte und erweist den Performer als einen, der über den Raum selbst Verfügung hat. Die Zufriedenheit während des Armausfahrens ist die Zufriedenheit desjenigen, der sich mit seiner Umgebung auskennt, an ihr teilhat, dieses oder jenes für sich zu nutzen versteht. Seine Performance ist daraufhin nicht mehr diktiert, sondern autorisiert, im Sinne einer autonomen Handlungsanweisung im Raum und Bewegung.

Die Szene ließe sich ausbauen. Ein Bühnenarbeiter könnte dem Performer noch mehr zeigen, ihn noch weitreichender einführen, aber das ist gar nicht nötig. In dieser Performance reichte das Ausfahren des Greifarmes grundsätzlich aus, um die Bewegungen, den Tanz, rundum diese Sequenz als selbständig und autorisiert und handhabbar erscheinen zu lassen. Ich, als Zuschauer, sehe plötzlich nicht nur einen Schauspieler in einem ihm fremden Raum, sondern einen Schauspieler, der den Raum um sich herum begreift, ihn nutzt und daher auch in ihm tut, was er wirklich tun will. Erst dadurch bekommen seine Handlungen einen Zeichencharakter, eine wie auch immer schwache Bedeutungsstruktur. Der Raum lädt sich subjektiv auf, weil der Raum nicht nur erscheint (als Bühnen- und Arbeitsraum), sondern auch veränderbar ist, zur Verfügung steht. Der Performer braucht diese Verfügbarkeit, um glaubwürdig zu erscheinen, selbständig, nicht wie eine Marionette (im schlimmsten Falle) einfach nur einen für ihn ausgeheckten Plan verwirklichend. Durch den verfügungserweiternden Akt gibt es plötzlich keinen Plan mehr: es gibt nur noch Aktionen und die sind gewollt und in Szene gesetzt von einem um sich greifenden, Raum verändernden Individuum.

Das, was in dieser einen Performancesequenz stattgefunden hat, müsste permanent in einem Theater passieren: die selbstdurchgeführte Erneuerung als Spielort, ein räumliches Hinterfragen, eine spielerische Aneignung der eigenen materiellen Spielbedingungen: die Treppen sind nicht nur zum Treppensteigen da, die Wände nicht nur, um sie mit Stoffbahnen zu behängen, der Boden nicht nur, um ihn zu belaufen und zu betanzen. Wände, Decke, Boden, Türen, Fußleisten, Kanten und Ecken haben eine Realität und ein Potential zur Realitätssteigerung des Dargestellten, das bislang völlig vernachlässigt worden ist. Die räumliche Präsenz eines Spielortes ist Maß seiner Glaubwürdigkeit - die Kreativität findet nicht nur auf der Bühne, sondern mit der Bühne zusammen statt. In der Auseinandersetzung mit den Brettern, die die Welt bedeuten, bedeuten die Schritte auf diesen etwas (warum sonst wird die Bühne zum Sinnbild des Bedeutungsträgers). Im Theater hinterfragt sich der menschliche Raum in Bezug auf die menschlichen Fähigkeiten, sich diesen Raum durch Handlungen, verrückte, tolle, schüchterne, einfallsreiche, anzueignen. Das Theaterhaus selbst ist nichts als ein materialgewordenes Experiment zur Raumhinterfragung, ein kreativer Unruheherd inmitten einer dem Staatsbürger entzogenen Straßenrealität. Je mehr sich dies im Programm, in der Praxis zur eigenen Hauspolitik, im Umgang mit den eigenen Möglichkeiten in den Fluren, Zimmern, Bühnenräumen niederschlägt, desto aufregender, erlebnisreicher, fruchtbarer ist jeder Theaterbesuch und jedes Theaterprojekt und daher ist nur zu hoffen, dass der Raum, der eigentliche Inhalt, die eigentliche Form des Theaters, endlich aus seinem Dornröschenschlaf geweckt wird, auf dass im Gähnen und Strecken des räumlichen Zentrums der jeweilige Spielort sein ganzes kreatives Potential entfalten kann, SpielORT und SpielSTÄTTE wird und nicht zu einem Laufsteg verkommt, auf dem man mir zwar etwas bietet, aber etwas, was mit mir eigentlich nichts zu tun hat.

AC, Berlin April 2005

 

 

 

 

 

 

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