Programm
Texte
Forum
Produktionen
Kontakt

 

Träumen und Morden

Ein Essay zur Bedeutung von Fiktionen
und eine persönliche Stellungnahme zum Phänomen realer Morde im Film

 

Früher hatte ich einen Traum. Eigentlich ein Traumgenre, ein Traumformat, das in leichten inhaltlichen Abwandlungen immer wieder kam. Wie alle guten Genreprodukte, basierten diese Träume immer auf einer sehr simplen klaren Struktur. Ich führe eine einfache Handlung aus, die Handlung scheitert. Ich versuche es noch mal, scheitere. Und das immer wieder. Nach einer Weile war mir klar, daß die Handlungen weder erfolgreich sein würden, noch daß ich mit ihnen aufhören könne. Es war also ein Traum der Vergeblichkeit und damit ein Traum der Unabänderlichkeit, denn es war nicht nur vergeblich, weiterzuprobieren, es war auch unabänderlich, daß ich weiter machen würde.

Irgendwann bin ich diese Sorte Träume losgeworden. Seit einiger Zeit träume ich dagegen im Actionfilm Format. Das verblüfft mich immer noch, da ich dem Genre des Actionfilms im Wachzustand nur wenig abgewinnen kann. Mir geht es aber mit den Verfolgungsjagden und Schlägereien wesentlich besser als mit den Träumen von nicht schließenden Türen und abfallenden Haken. Wesentlich besser.

Träume sind fiktive Texte - oder Performanzen, je nachdem, wie man seine Träume erlebt. Ihre Fiktivität ist ihre wesentliche Qualität. Wegen ihrer Fiktivität können wir aus ihnen aufwachen. Träume, genau wie Bücher, Filme, Theaterstücke oder Bilder erlauben es uns, Situationen und Emotionen kennenzulernen, ohne auf sie reagieren zu müssen. Das ist die eine Bedeutung von Fiktion: daß wir uns nicht zu ihr verhalten müssen, daß wir sozusagen nur einem Test beiwohnen, einem Akt des als ob, dem wir uns immer verweigern können - intellektuell, indem wir uns seiner Fiktionalität erinnern, was nicht allzu schwer ist, emotional, in dem wir uns distanzieren, was manchmal sehr schwer fällt, und physisch, in dem wir das Buch schließen oder den Raum verlassen, was immer möglich sein sollte.

Die zweite Bedeutung von Fiktion ist, daß es auch anders sein könnte. Und um diese zweite Bedeutung der Fiktion geht es mir hier. Eigentlich sind beide Bedeutungen Bedingungen der Fiktion, sie sind ihre Gesetze. Meine Träume der Unabänderlichkeit waren deswegen so bedrückend, weil es so aussah, als sei in ihnen das zweite Gesetz der Fiktion verletzt, als gäbe es nur diesen einen Text, und keine Alternativen. Damit verkehrte sich die Fiktion scheinbar in ihr Gegenteil, in gelebtes Leben.

Auf der Seite des Produzenten der Fiktion stellt sich der Unterschied zwischen Leben und Fiktion als einer der Zeit dar: Fiktion löst die reale Zeit auf, indem sie eine eigene Zeit erfindet, die immer wieder neu ansetzen und ablaufen kann. In dieser bewußt gestalteten Zeit gibt es kein "vorbei" oder "zu spät" mehr, denn jede Handlung kann wiederholt, jeder Prozess neu in Gang gesetzt werden. Zwar kann ich als Produzent Zeitlichkeit im Sinne der Realität inszenieren, kann fiktive Endlichkeit behaupten, diese wird jedoch nie endgültig. Auch kann ich Aktion und Reaktion zeitlich von einander lösen. Dadurch kann der Raktionszwang, den eine Aktion in der Realität auszulösen vermag, unendlich hinausgezögert werden.

Und als Rezipient? Wenn ich die Fiktion als Fiktion erkenne - etwas, was im Traum uns nur selten bewußt gelingt, was im Wachzustand aber die Regel sein sollte -, dann kann ich an dieser Freiheit teilhaben. Genau darin besteht meiner Meinung nach der Genuß der Fiktion! Das Wissen um die Beliebigkeit der fiktiven Konstruktion, um ihre Konstruiertheit, produziert jenes befreiende Gefühl, jenen Lustgewinn beim Lesen, beim Zuschauen oder beim Zuhören. Im Fiktiven feiern Menschen nicht etwa ihre vermeintliche Genialität und Schöpferkraft, sie feiern etwas Allgemeineres: das Prinzip der Freiheit, das Prinzip der Alternation. Menschen brauchen Fiktion um das Prinzip der Alternation zu erfahren, und je deutlicher sie es hier erfahren können, desto wertvoller ist diese Erfahrung. Denn die Realität scheint vor allem einem anderen Prinzip zu gehorchen, dem der Endgültigkeit. Das ist aber nur bedingt der Fall - unser Leben ist sowohl von Alternation, wie von Endgültigkeit durchzogen.

Was jedoch passiert, wenn ich die Fiktion für Realität halte oder die Realität für Fiktion? Zuerst ein Mal kann das auf verschiedene Weisen passieren: Fiktion kann den Charakter von Realität annehmen, wenn die Fiktionen, denen ich begegne, anfangen, sich zu sehr zu ähneln. Sie verlieren dann jegliche Zeichen von Alternation, gerade das, was sie als Fiktionen auszeichnet. Sie scheinen sich gegenseitig zu bestätigen und schließlich zu einer zweiten Realität zu werden. Die Fiktion ersetzt dadurch noch nicht die Realität, sie beginnt jedoch, ihre Qualitäten als Fiktion zu verlieren und sich wie Realität anzufühlen. So wird der Konsum von Fiktion zu einem Traum der Vergeblichkeit, und ob ich diesen Zustand als bedrückend erfahre, hängt lediglich davon ab, was ich von meinen Träumen oder meinen Fiktionen erwarte.

Ein anderer Weg, auf dem sich die Fiktion an die Realität annähern kann, besteht in der Art ihrer Produktion. Fiktion und Realität werden von uns aufgrund einer Reihe von kulturellen Zeichen unterschieden. Wie diese Zeichen aussehen, wie sie sich in anderen Kulturen oder Zeitaltern unterscheiden, ist mir an dieser Stelle nicht wichtig. Mich interessiert das Ergebnis einer bewußten Manipulation dieser Zeichen zur Herstellung einer Illusion von Realität. Denn ich bezeichne Fiktion an sich nicht als eine Illusion der Realität. Im Gegenteil: Fiktion ist das bewußt geschaffene Andere zur Realität, gerade nicht Realität und deswegen auch nicht dessen Illusion. Fiktion, die als Illusion der Realität auftritt, verliert zwangsläufig ihre besondere Beziehung zum Prinzip der Alternation. Stattdessen täuscht sie vor, dem Prinzip der Endgültigkeit zu unterliegen. Wenn nun eine fiktive Begebenheit als reales Ereignis präsentiert wird, ein Verfahren, das in sehr vielen graduellen Abstufungen angewandt werden kann, so erhält sie den Schein von Endgültigkeit. Endgültigem kann ich als Rezipient aber nur passiv gegenüberstehen - passiv leidend oder passiv befriedigt, das hängt lediglich davon ab, was ich von dem, was ich für Realität halte, erwarte. Ich jedenfalls habe unter den Vergeblichkeitsträumen gelitten.

Inzwischen habe ich eine Entsprechung für dieser Träume im Wachzustand gefunden: die filmische (oder akustische) Wiedergabe von Ermordungen. Ermordungen oder schwerwiegende körperliche Verletzungen vor laufender Kamera sind ein seltener Anblick in unserer Medienwelt, und es scheint eine Art Gentleman Agreement darüber zu existieren, derartiges Material nur mal eben aus Versehen oder in Ausnahmefällen zu verwenden. Es hat mich auf eine besondere Weise betroffen gemacht und verunsichert, zu lernen, daß es ein ganzes Genre gibt, dessen Filme, wie alle guten Genreprodukte, auf der simplen Struktur basieren, daß ein Mensch stirbt oder verstümmelt wird und ein anderer ihn dabei filmt. Inzwischen glaube ich, daß der Grund, warum mich die Existenz derartiger Filme nachhaltig irritiert in der Entsprechung liegt, die dieses Konzept zu meinen Träumen von vor etwa 12 Jahren aufweist. Um das zu erklären muß ich das oben allgemein formulierte noch einmal am speziellen Fall des fiktiven und des realen, abgefilmten Mordes verdeutlichen.

Die Darstellung eines fiktiven Mordes setzt das Wissen um eine Vielzahl von Entscheidungen des Produzenten voraus, die zu diesem Mord geführt haben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht, ob ich als Rezipient diese Entscheidungen nachvollziehen kann, ob sie mir richtig oder auch nur logisch erscheinen, sondern wichtig ist nur das Wissen darum, daß jede dieser Entscheidungen auch anders hätte getroffen werden können. Sogar, daß ich als Rezipient selbst zum Produzenten werden könnte um eine ähnliche Geschichte zu erdenken, zu visualisieren und jegliche Abweichung vorzunehmen, die mir richtig erschiene - etwa den fiktiven Mord zu verhindern. Denn in der fiktionalen Zeit wäre es dazu nie zu spät. Die Geschichte könnte neu erzählt werden.

Einmal vorausgesetzt, daß die meisten Menschen das Ermorden eines anderen Menschen für unbedingt verhindernswert oder zumindest für nicht wünschenswert halten - ich befürchte, von mehr kann nicht ausgegangen werden - so ist die fiktive Darstellung eines Mordes geradezu eine Aufforderung dazu, realen Mord zu verhindern. Denn durch die bewußte Alternation zur Realität, die die Fiktion darstellt, verweist jede fiktive Handlung auf ihr Gegenteil, auf das Unterbinden dieser Handlung in der Realität. Zumindest verweist die fiktionale Handlung genauso deutlich und genauso zwingend auf ihr reales Gegenteil wie auf ihre Entsprechung. Als richtig verstandene Alternation, kann Fiktion vom Rezipienten auf die eine oder andere Weise oder auch gar nicht auf dessen Leben bezogen werden.

Der als real präsentierte Mord, soll vom Rezipienten als unabänderlich begriffen werden, nicht als eine unter mehreren Möglichkeiten, sondern als die einzige, weil bereits passierte Möglichkeit. (Das Gesetz der realen Zeit) Das macht seinen Realismus aus. Unser Wissen um das Medium Film, besagt darüber hinaus, daß Aufzeichnung (Film) und Tat (Ermordung) zeitgleich und ortgleich vonstatten gegangen sein müssen. Die daraus resultierende Frage, warum der Produzent dieses Materials nicht eingegriffen habe, anstatt zu filmen, stellt für mich jedoch noch das mildeste der sich ergebenden Probleme dar. Schließlich kann ich mir durchaus eine plausible Begründung vorstellen, warum ein beliebiger Produzent nicht zum Verhinderer geworden sein könne. Als schwerwiegender empfinde ich, daß mir als Rezipient durch die Technik des Films, eine Gleichzeitigkeit von gefilmter Aktion und Betrachtung suggeriert wird, worin ja schließlich die Faszination dieses Mediums besteht. Ergebe ich mich jedoch dieser Suggestion, tauche ich also ein in die Welt der filmischen Fiktion, die aber keine mehr zu sein vorgibt, so werde ich mit einer Ausweglosigkeit und Passivität angesichts eines Verbrechens konfrontiert, die meines Achtens an Brutalität nicht zu überbieten ist. Wenn ich Mord für ein Übel, und zwar nicht für irgendeines halte, dann müßte mich die Zurschaustellung realen Mordens und Sterbens in tiefe Verzweiflung stürzen. Denn mein Impuls müßte der sein, einzugreifen, da ich annehmen würde, einer realen Hinrichtung beizuwohnen. Mein Wissen um den Unterschied zwischen Fiktion und Realität muß mich als Rezipienten dann zwangsläufig in ein emotionales Dilemma führen, das zu erzeugen, ich für verantwortungslos und schlicht destruktiv halte.

Denn welchen positiven Effekt sollte die Darstellung eines realen Mordes bezogen auf den Gefühlshaushalt oder das Verhalten eines Rezipienten hervorrufen? Die Darstellung ist weder ein Beispiel für Alternation, denn es handelt sich ja gerade nicht um eine unter mehreren Möglichkeiten, noch fordert sie zur Verhinderung von Mord in der Realität auf, denn sie zeigt lediglich eine Bestätigung der real stattfindenden Verbrechen. Wenn überhaupt etwas, so lernt der Rezipient aus dieser Darstellung nur, daß Morde eben passieren. Die dabei eröffneten Handlungsmöglichkeiten stellen sich folgendermaßen dar: töten, sterben oder filmen. Das psychologische Resultat wäre meines Achtens entweder Apathie oder Schizophrenie.

Aber all das läßt sich natürlich nur sagen, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die Mord tatsächlich für verhinderungswürdig halten. Die Beobachtung, daß das Gentleman Agreement über das Vermeiden solcher Darstellungen, in der euro-amerikanischen Gesellschaft wieder an Verbindlichkeit verliert, ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß diese Einstellung ebenfalls abnimmt. Töten, sterben oder filmen scheint mir dagegen immer mehr eine treffende Formel für die Beschreibung unserer gesellschaftlichen Realität zu werden. Ihre Stärke besteht darin, daß sie Realität und Fiktion präzise aufeinander bezieht. Nur so können wir konkrete Aussagen treffen sowohl über unsere gesellschaftlichen Prinzipien, wie über den Stand unserer Fiktionen.

JP Possmann, Januar 2003

 

 

 

Home