Programm
Texte
Forum
Produktionen
Kontakt

 

 

 

Vorschlag eines praktikablen Kunstbegriffs:

Aus der Sicht eines Textproduzenten

 

Daß Kunst historisch ist, ist mittlerweile allgemeiner Konsens. Kaum noch einer glaubt ernsthaft, daß Schönheit ewigkeitsvermittelnde Erlösungsdarstellung ist. Kunst demnach Zelebration eines uns ewiglich umgebenden Schöpfergottes wäre, die sich allein aus dem Grunde nicht verändern kann, weil das Dargestellte eben unendlich und zeitlos sei. Dieser Glaube ist weitestgehend verloren gegangen und so auch die Schönheit als geschmacksabhängig erkannt worden. Geschmack ist ein Modephänomen. Und die Mode ist in sich als Begriff schon zeitlich bestimmt.

Daß Kunst historisch ist, kann mithin vorausgesetzt werden. Historisch ist als Spezifikum aber noch zu unklar. Historisch kann auch meinen, daß Kunst eine eigengesetzliche Entwicklung durchläuft - also historisch bezüglich einer Kunstwelt ist. Kunstwerke antworten auf Kunstwerke, und weil es immer mehr Kunstwerke gibt, verändern sich die Antworten, die Formen, die Inhalte. Kunst wäre nach einer solchen Auffassung zwar historisch, aber selbstreferentiell.

Diese Auffassung zu entkräften, die sich hartnäckig im kunstwissenschaftlichen Bereich zu behaupten vermag, fällt schwer. Die Abstraktion ist kaum rückgängig zu machen. Was bleibt, ist einzig an das Residuum des Produktionsprozesses zu erinnern: das Material. Das Material des Kunstwerkes ist nicht im luftleeren Raum entstanden und so können es auch nicht die Kunstwerke sein. Menschen produzieren Kunstwerke und Menschen leben nicht in einer Kunstwerkwelt. Sie leben in einer Produktionsöffentlichkeit. Sie arbeiten. Sie essen. Sie nehmen teil an einer Gesellschaft.

Historisch meint nun, daß Kunstwerke eine Art avancierter Geschichtsschreibung, also vermittelnde Darstellung wie auch immer gearteter gesellschaftlicher Prozesse sind. Wie schlägt sich aber Geschichte in Kunst nieder? Auf welche Art und Weise drückt sich Gesellschaft im Ausdruck des Kunstwerkes aus? Auch diese Frage kann vielfach beantwortet werden.

Grob unterteilt spalten sich die möglichen Antworten in drei grundsätzliche Argumentationsstrategien auf. Erstens kann sich Zeit als Inhalt im Kunstwerk niederschlagen: Veränderung der Motive, Bezüge auf Zeitgeschehnisse, direkte, unvermittelte Thematisierung gesellschaftlicher Veränderung usw. Zweitens kann die Form Ausdruck der Zeit sein, also nicht das "Was sehe ich", sondern das "Wie sehe ich es": Kollage, Dreidimensionalität, Parallelisierung usw. Der dritte Weg wäre beides zugleich. Da die Mischung aber nur Addition ihrer Einzelteile ist, stellt sich keine neue Form des zeitverarbeitenden Geistes dar.

Daß sich Zeitgeschichte inhaltlich im Kunstwerk widerspiegelt, ist offensichtlich und auf eine so direkte Art und Weise eindrücklich, daß es sich kaum lohnt, darüber Worte zu verlieren. Dem Inhaltlichen sind Tür und Tor geöffnet und selten kann über die Inhaltlichkeit eine Kunstperiode klar erfaßt werden. Das Allgemeine im Kunstwerk ist nicht der Inhalt. Dieser verliert sich vielmehr in der Kontingenz des allzu Präsenten. Viel interessanter, insbesondere für Kunstproduzenten, ist es, sich mit dem Allgemeinen eines jeden Kunstwerkes auseinanderzusetzen. Der Form.

Die Form spezifiziert die Zeitlichkeit, so die nun ausgeführte These, eines jeden Kunstwerkes. Kunstwerke stellen geronnene Subjekte dar. Kunstwerke sind Sichtweisen: Ausdrucksformen, Ausdruckswünsche, Apperzeptionsmuster. Die Perzeption unterscheidet sich von der Apperzeption dadurch, daß Perzeption Wahrnehmung ist und Apperzeption die Lenkung der Wahrnehmung. Vielfach wird von bewußter Wahrnehmungslenkung gesprochen. Darüber soll nicht gestritten werden. Sowohl bewußt wie unbewußt wird Wahrnehmung gelenkt: von uns, von anderen und eben, vor allen Dingen, von der Einrichtung der Gesellschaft, in der wir leben.

Kunst ist sinnlich wahrnehmbar gemachte Apperzeption, also die Thematisierung des Wahrnehmungsaktes. Eines Aktes, der sonst eben nicht sichtbar ist. Der unsichtbar unser aller Wahrnehmung lenkt, aber selbst nicht vor unsere Augen tritt. Faßt man Kunst als eine solche Darstellungstätigkeit, so entschlüsselt sich einem die Kunstgeschichte und, viel wichtiger, es entschlüsselt sich einem die eigene Kunstbestrebung in seiner eigenen Zeit. Der allgemeine Begriff leitet, wohin die Frage der Kunstproduktion kulminiert, zur Ausdrucksform. Wie drücke ich was weshalb aus? Daß hiermit nur die Frage des Wie beantwortet ist, also die Tätigkeit als solche gar nicht berührt, also auch nicht überflüssig geworden ist, versteht sich von selbst.

In der Kunst spiegeln sich Wahrnehmungsformen wider. Grob sollen nur drei Phasen genannt werden, die wiederum in sich zu differenzieren sind, was aber hier nicht vonnöten ist, da es sich bei diesem Text nur um einen Vorschlag für gegenwärtige Kunstproduktion handelt und nicht um eine Kunstgeschichtsschreibung.

Die erste Phase der Kunst läßt sich zusammenfassen als die Phase des Sehenlernens. Frühzeitliche Kunst hat zum Gegenstand Wahrnehmung überhaupt einzuüben. Dreidimensionalität wird entdeckt. Wortrhythmen werden gefunden. Worte werden erschaffen. Der menschliche Körper wird untersucht. Kunstwerke dieser Zeit spiegeln wider, was vorhanden ist. Sie sind Produkte einer Zeit, in der sich die Menschen intensiv bemüht haben, ihre Welt kennenzulernen. Resultat ist eine sich öffnende, auf die Wirklichkeit abzielende Wahrnehmungstätigkeit. Mithin Vergegenwärtigung von Prozessen, die notwendig sind. So ist die Höhlenmalerei ein Versuch der Orientierung. Man vergegenwärtigt sich, wie zu jagen, wie zu kochen, wo zu siedeln ist.

In der zweiten Phase beschäftigt sich die Kunst nicht mehr mit purer Realitätswiderspiegelung. Es beginnt die Entdeckung des sich selbst setzenden Erkenntniswesens. Realität wird zusammengefaßt. Apperzeptionsmuster konstruiert. Kunstwerke bemühen sich um Sinngebung. Kosmologische Kunstwerke. Mittelalter. Frühneuzeit. Die großen, sinngebenden Gemälde von Bruegel, Michelangelo, Rubens. In dieser Phase thematisiert sich das Bedürfnis danach, die Welt zusammenzudichten, zusammenzuhalten. Es ist die Phase des erwachten und produzierenden Menschen, der weiß, was ihm wichtig ist, der sich positioniert, der sich Sinn verleiht, der sich theoretisch und praktisch die Welt zum Untertan macht, indem er sie im Prokrustes Bett seiner Wahrnehmung zurecht schneidet, solange, bis das, was vor seine Augen tritt, mit dem, was er sich wünscht zu sehen, zusammenfällt. Bis er also sieht, was er sehen will. Es ist dies die Phase der Identitätssetzung und der Produktivsetzung. Die Phase, in der sich der Mensch in den Mittelpunkt der Welt setzt, seine Bretter, die die Welt bedeuten, betritt, seine Geschichte, die Geschichte der Welt, schreibt. Der Mensch feiert sich in seinen Kunstwerken selbst. Die Harmonie. Die Kohärenz. Die Klassik. Das zusammengewebte, im Textum eingekleidete Leben in der romanhaften Biographie.

Dieses überbordende Feiern wird in der dritten und gegenwärtigen Phase kritisiert. Ja, fast schon bekämpft. Auf den Schauplatz tritt der Realismus und dieser in allen möglichen Formen. Rettung der Wirklichkeit gegen die Fabrikation der Fiktion. Der Wunsch nach einem gesteigerten Realitätsgrad. Der Mensch erkennt die Grenze seiner Existenz. Das Zusammendichten bleibt möglich, ersetzt aber nicht die Realität. Wie auch immer man sich das Leben schön dichtet, das Leben wird nicht schöner. Und so wird es nicht mehr schöngedichtet. Nach dem Aderlaß der Klassik findet die spröde Wirklichkeit wieder Einlaß in die geheiligten Hallen der Kunst. Waschbecken werden zertrümmert. Striche werden gezeichnet. Dissonanz und Widersprüchlichkeit werden erkannt und bearbeitet, um über ihre Erkenntnis zurück zu dem zu finden, was vor uns liegt.

--

Soweit zum kurzen Abriss, für den man sich selber Beispiele finden und selbstverständlich auch Gegenbeispiele konstruieren kann. Keine Zeit, in der es nicht Ungleichzeitigkeit gibt. Kunstwerke, die vorgreifen. Kunstwerke, die nachbearbeiten. Es sollte aber bloß ein möglicher Kunstbegriff vorgestellt werden, der sich für die künstlerische Arbeit als praktikabel erweisen kann.

Zumindest hat er mir geholfen, zu verstehen, was mich beim Schreiben beschäftigt. Im folgenden nun die Übertragung des Gesagten auf den Bereich der Literatur.

Literatur eignet sich hervorragend, Welten zu erzeugen. Der Text ist ein faszinierendes Angebot zur Weltflucht: ein Buch aufschlagen und vergessen, wo man ist. Der Roman fand seinen Aufstieg just in der geschichtlichen Phase der Menschheit, in der sich das einzelne Subjekt die Welt zu konstruieren begann. Der Mensch erfindet sich selbst in der Welt. Er legt sich aus und vervollkommnet sich, realisiert seine Wünsche und strebt nach einer subjektiv, von ihm gestalteten Ordnung. Die Freiheit als realisierte Möglichkeit der Selbstillusion.

Im Roman spiegelt sich hervorragend der Wunsch des Menschen wider, seine Welt zu ordnen. Jeder will schreiben. Jeder, nämlich weil der Akt des Schreibens eben die Realisation des Wunsches ist, sich die Welt so zu konstruieren, wie man sie sich wünscht. Der bewußte Akt der Handlung, den wir tagtäglich unvollständig und halbherzig vollführen, ist das Fabulieren, die willkürliche Sinn- und Bedeutungskonstruktion. Im Akt des Schreibens will das Subjekt, der Schreibende, vollständig die Welt in Sprache und so in seine Vorstellungswelt sperren. Der Wunsch eine Biographie zu schreiben, ist geradezu das exemplarische Beispiel hierfür. Der Wunsch ist nämlich die Spiegelung des Versuchs, der Kontingenz der eigenen Existenz einen Sinn zu verleihen, also in dem Ablauf der Zeit einen Sinnzusammenhang herzustellen: das Leben in den Griff der subjektiven Vorstellungswelt zu bekommen.

Wie schon im zeitlichen Abriß dargelegt, entspricht dieser Wunsch einer überkommenen geschichtlichen Phase, nämlich der zweiten. Sinn und Bedeutung literarisch zu produzieren, erscheint in dem Maße als überflüssig, als überall und jeder die Welt zusammendichtet und sich vorstellt, wie er sie will. Der Kunstakt ist, wie es auch sein soll, allgemein verfügbar geworden: sozusagen in das gesellschaftlich angebotene Handlungsmusterrepertoire aufgenommen worden: Es gibt keine Wahrheit. Alles ist relativ. Jeder schreibt in seinem Leben, wenn er mit anderen Menschen spricht, seinen Roman. Er schreibt ihn in seiner Liebesbeziehung, auf seiner Arbeit, mit seinen Eltern. Aber stets wird dieser Akt von dem Unbehagen begleitet, der komplexen Realität nicht ganz zu genügen, von dem Gefühl, der Realität dabei nicht gerecht zu werden. Eben dieses Gefühl ist im Romanschreiben suspendiert: Felix Krull sein ist dort erlaubt, wo alles Fiktion ist. Es ist aber auch langweilig geworden, Felix Krull zu sein, wenn es jeder ist.

Und so zeigt sich, daß der Ausdruck in der literarischen Produktion nach anderen Formen schreit. Es scheint unangemessen, Romane zu konzipieren. Unangemessen, runde, lange, wohlgeformte Sätze zu schreiben, in die das Leben gegossen wird. Es scheint unangemessen, weil die Hybris des reflektierenden Subjektes dem Subjekt bewußt, nämlich die Erkenntnis erhalten bleibt: Wirklichkeit ist kontingent, nicht sinnvoll. Gesellschaft ist multiplex, unüberschaubar, nicht eindimensional und geordnet. Der Text, der sich notwendig als Realität setzt wie jedes Kunstwerk, schämt sich seiner Lüge und Vereinfachung und strebt nach greifbarer Materialität. Und was bleibt ihm anderes übrig, als sein Medium zu kritisieren: die Fiktionalität. Die Sprache als Abbildungsmedium weltschöpfender Phantasie. Sprache selbst als Allgemeines muß kritisiert werden, denn was man in der Sprache hat, hat man noch lange nicht in der Realität; denn was man sprachlich verstanden hat, muß man somatisch noch nicht begriffen haben. Sprache ist normalisierte Abstraktion von Wirklichkeit. Literatur versucht die Abstrahierung wieder gut zumachen. Sie verbietet sich den Roman, der nichts als zeitlich angelegte Sinnproduktion ist. Sie verbietet sich die glatten, erhabenen Sätze eloquenter Klassiker. Sie greift in die Worte ein und verstümmelt Sinngebung, läßt Klänge erklingen, Worte antworten. Sie greift aus dem Text, um den Leser wachzurütteln, ihn aus der Fiktion seiner Fiktionen zu befreien, die Sprache zu überkommen, auf daß der Leser das Buch beiseite legt und Wirklichkeit wahrnimmt. Literatur entspannt dann nicht mehr. Literatur rüttelt wach. Sie ist dann wie der Pflug, der das Feld der eigenen Gedanken umpflügt. Sie ist dann die Axt, die das Eis in uns zerschlägt.

Eine solche Literatur empfängt ihren Sinn gerade aus der zeitlichen Situation, daß allerorten fabuliert, gelogen, Bedeutung erfunden wird, aber nicht mehr auf das, was passiert, geachtet wird. Wen interessieren die fußballgroßen Nieten der Tragwerkskonstruktionen unserer Hochbahntrassen, auf denen wir tagtäglich in unseren U-Bahnen fahren? Man sieht nur, was für einen von Bedeutung ist, was einem gefällt. Richtig Sehen lernen heißt dem subjektiven Gefängnis der eigenen Bedeutungswelt entfliehen zu können. Daher kann es nicht an der Zeit sein, lange Texte zu produzieren. Sie müssen kurz und knapp sein. Sie müssen schnell und exakt einen Themenkreis bearbeiten. Sie dürfen den Leser nicht für Stunden fesseln. Sie sollen ihn erfrischen, ihn unterhalten, aber eben auf eine Weise, die nichts mit Flucht zutun hat. Materialität, Welt erlebbar werden lassend. Ausgangspunkt kann nicht mehr der Satz sein. Ausgangspunkt ist das Wort. Ziel kann nicht mehr der Sinn sein. Ziel ist das Aufwachen. Wenn also die Sinngebung kritisiert wird, dann vor dem Hintergrund der wahrnehmbaren Wirklichkeit und nicht aus einem luftleeren Nihilismus poststrukturalistischer Beliebigkeit heraus. Die Postmoderne hat recht, wo sie die Kohärenz von Sinnproduktion in Frage stellt. Sie hat aber dort unrecht, wo sie leugnet, daß es einen Ausgangspunkt des Lebens gibt, nämlich Wirklichkeit, Tätigkeit, Arbeit. Hier entpuppt sie sich als dekadente Wirklichkeitsverleugnung. Auch wenn es nicht die Wahrheit gibt, es gibt die Realität und diese soll Gegenstand der Literatur sein. Nicht im Sinne eines abgegriffenen Realismus, der sich ad absurdum führt, weil jeder Realismus als Begriff schon die Distanz von der Realität mit sich führt, und diese Distanz konstitutiv für Kunst ist. Vielmehr ist die Fiktionalität der Gedankenwelt Thema der Literatur. Der steinige Weg aus dem Labyrinth versponnener Gefühls- und Gedankenwelten zu entkommen, drückt sich in der Sprache aus. Und so eignen sich thematisch nicht mehr Gesprächssituationen, Sinnfragen, Biographien jedweder Provenienz. Thema kann schwerlich die mannigfaltige Ideenwelt der Menschen sein. Mit Irrtümern Irrtümer zu verstehen, erscheint doch zu schwierig. Vielmehr zieht es zu Wirklichkeitsbeschreibung. Kompakte Bruchstücke eindrücklicher Realität.

Und so stellt sich eine aus dem vorgestellten Kunstbegriff gewonnene Textproduktion dar: kurze Texte, gebrochene Sätze, thematische Wirklichkeitsnähe; und das, um nichts anderes als die Realität der eigenen Sinnwelt in Frage zu stellen, also die Fiktionalität unseres eigenen Leben wie auch diejenige unserer Gesellschaft zu entschleiern und verübtes Unrecht, wenigstens fürs erste, apperzeptiv wieder gut zu machen. Dies und nichts anderes liegt, zumindest meinem, Ausdrucksbedürfnis zugrunde.

 

Alexander Carmele, Berlin, den 31.12.2002

 

 

 

 

 

 

Home